Die Welt ist aus den Fugen: Die Telekom schickt ihre Innovations-Manager aus Bonn, Darmstadt und Berlin busweise in die Start-up-Szene. Vodafone D2 ist so gut wie die einzige noch verbleibende Melkkuh des britischen Mobilfunkers in Westeuropa. E-Plus verkauft seine Betonmasten an den Infrastruktur-Betreiber American Tower. Und die deutsche Telefónica riskiert mit überlastetem Netz einen Massenaufstand ihrer Kunden und versucht unverhohlen, deren Bewegungsdaten zu verscherbeln. Der Lack ist ab bei Deutschlands einstigen Technologie-Innovatoren. Das Internet frisst seine Eltern. Thorsten Claus hat sich den Erdrutsch angeschaut:
Mit einem Minutenpreis von 5 ct. in alle Netze läutet die Metro-Tochter Galeria Kaufhof mit einem Prepaid-Angebot eine neue Runde ein – auf der Abwärtsspirale der gewinnverwöhnten Netzbetreiber im Mobilfunk. Mit verkappten Subventionen von bis zu 600,- Euro Cashback kaufen sich vor allem Telekom und Vodafone über Online-Händler wie Sparhandy und Logitel regelmäßig zu Quartals- und Jahresende vermeintliche Neukunden hinzu und hübschen mit teuer erkauften Neuverträgen kurzfristig die Bilanzen für ihre Aktionäre auf. Ohne Rücksicht auf Verluste vernichten die Big Player der Branche ihr mit millionenteurer Fernsehwerbung aufgebautes Premium-Image als Qualitäts-Carrier.
Erleben, was passieren muss …
Mit Over-the-Top-Apps (OTT) für Messaging, SMS und Telefonie droht den saturierten Netzbetreibern nicht nur in Deutschland neues, nie da gewesenes Ungemach. Die jungen WIlden degradieren die alten Platzhirsche nach 20 Jahren Mobilfunk mit diebischer Freude zu “Dump Pipes” – für den Traffic ihrer Kommunikations-Dienste. Was Google-Chef Eric Schmidt in seiner Keynote auf dem Mobile World Congress 2010 noch zögernd verneinte – es ist bittere Realität. Trotz eigener Developer- und Start-up-Programme – in den Glaspalästen der Mobilfunker in Bonn, Düsseldorf und München führt die alte Denke in SIM-Karten und Airtime zum unweigerlichen Absturz aus dem Reich der Traumgewinne.
Schnell, schneller, erfolgreich
Sie sitzen in Luxemburg, Spanien oder Kalifornien. Sie sind junge, international schnell wachsende App-Companies mit frischem Risikokapital in den Kassen und gelten als die neue Avantgarde der Tech-Industrie. Geräte und Betriebssysteme interessieren sie nur, wenn ihre Apps darauf erfolgreich laufen. Verlierer – wie z. Zt. Blackberry, Symbian oder Windows Phone – werden einfach abgekündigt. WhatsApp, Facebok, Skype und Yuilop krempeln den Mobilfunkmarkt um. Nach Netzbetreibern, virtuellen Anbietern und Discount-Marken bereiten App-Companies mit Social Communications Apps die nächste Generation der mobilen Kommunikation vor.
‘Bin schon da!’, sagte die App
Während Consumer-Medien über Sicherheitslücken in WhatsApp diskutieren, brechen andere Mobile Apps heimlich still und leise den Markt um. Haben sie sich einmal das Adressbuch von Android- und iPhone-Nutzern geschnappt, führt so gut wie kein Weg mehr an ihnen vorbei. Gleichen die Einen E-Mail-Adressen und Handy-Nummern der Freunde ab, arbeiten andere mit eigener Nutzerkennung (z. B. Facebook und Skype) oder sogar mit einer eigenen Rufnummer (z. B. Pinger und Yuilop). Der Fantasie zur Vernetzung von Nutzern sind fast keine Grenzen gesetzt. Allen gemein ist ein Ziel: So viele Nutzer so schnell wie möglich für ihren Service zu gewinnen.
Der Tanz ums goldene Kalb
Das Geschäftsmodell der Apps ist in keiner Weise einheitlich. Muss Facebook mit dem Messenger den Sprung auf Smartphones und Tablets schaffen um Werbung zu verkaufen, benutzt Skype-Eigentümer Microsoft den Dienst, um Nutzern Messaging, Content-Sharing und Telefonie einheitlich auf Desktop, Tablet und Smartphone anzubieten – und damit die Nutzer in Zeiten von Android und iOS an die mobil unbedeutende Windows-Plattform zu binden. Social-Comms-Apps mit Telefon- und SMS-Funktion bauen ihr eigenes Business auf – und verdienen über eingeblendete Werbung oder Premium-Services mit.
Jeder gegen jeden mit allen
Gelingt es den App-Services, sich auf einen offenen Standard wie die XMPP-Kennung zu einigen, könnten sie gemeinsam den Mobilfunkern die Geschäftsgrundlage stehlen und den Markt mobiler Telefonie und Kurznachrichten weiter umbrechen. Damit wäre z. B. die Handy-Nr. als globale Nutzerkennung für Kommunikationsdienste zunehmend überflüssig. Erstmals könnten Nutzer Telefonieren, Chatten und Content über alle von ihnen genutzten Services hinweg sharen. Damit würden die Services zur “Stickiness” von Nutzern, darauf aufbauende Angebote zum Geschäftsmodell. Schon heute besitzen z. B. Google-Nutzer die wie eine E-Mail-Adresse aussehende Kennung. Im kommenden Jahr könnten weitere Anbieter offiziell hinzukommen.
Power to you? Power to me!
Noch hoffen die Mobilfunker, über die Verknüpfung der Handy-Nr. mit der SIM-Karte den Daumen auf dem Kundenkontakt zu behalten. Erste Anbieter scheren sich jedoch immer weniger um die alte Verbindung von SIM-Karte und Kundenkontakt und vermieten Rufnummern an App-Companies. Davon profitieren vor allem die Telefon-Apps. Mit Yuilop in Barcelona und Pinger in San Jose sägen gleich zwei Companies mit Gratis-Telefonie und -SMS global am Ast alter Geschäftsmodelle. Yuilop-Investor Shortcut Venture lobt das Geschäftsmodell des u. a. in Deutschland und Spanien populären Dienstes auf seiner Homepage als ‘3. Generation’ des Mobilfunks.
Der Club der alten Bekannten
Ein Blick in die Investoren-Datenbank des Start-up-Portals Gruenderszene.de bringt zum Vorschein, wer hinter Shortcut Ventures steckt. Hauptinvestor des von den Blau.de- und Handy.de-Gründern initiierten Fonds ist KPN Mobile, die niederländische Mutter von E-Plus. Und bei Pinger im Silicon Valley hat kein geringerer als die Deutsche Telekom über ihren Ableger T-Ventures mit umgerechnet rd. 5,7 Mio. Euro die Finger mit im Spiel. Als Dritter im Bunde launchte die britische Online-Tochter der spanischen Telefónica in diesem Jahr ihre Tu Me-App und erntete auf einem Kongress dafür den spöttischen Kommentar ‘Me too’. Mit Libon springt jetzt auch die französische Orange auf den VoIP- und Social-Comms-Zug auf.
Joyn us – joyn me. What ever.
Last but not least versucht die internationale Mobilfunk-Vereinigung GSMA mit der US-Software RCS-e alias Joyn ihren Mitgliedern den Hintern zu retten. Von den vier Mobilfunk-Netzbetreibern in Deutschland wollen vor allem Telekom und Vodafone die SMS 2.0 kostenpflichtig einführen. Der rosa Riese vermasselte den kommunikativen Start im Sommer mit Pauken und Trompeten. Die Düsseldorfer Konkurrenz hält sich seit dem Launch ihrer Beta-Version lieber vorsichtig zurück. Zwar will auch Telefónica Joyn unterstützen, doch mit Tu Me im Portfolio könnte die spanische Mutter ihre deutsche Tochter auch zurückpfeifen.
All-Net-Flat – all you need?
Noch kämpfen die Platzhirsche um jeden Kunden – unterbieten sich mit Flatrates und Inklusiv-Volumen an Telefonminuten und Frei-SMS. 5 ct. pro Minute bei Galeria Mobil im deutschen E-Plus-Netz und 3 ct. bei Tuenti Movil im spanischen Telefónica-Netz dienen jedoch vor allem als Köder für Neuverträge. Dabei verschweigen die Mobilfunker gern, dass jüngere Nutzer immer weniger Telefonieren und lieber Chatten und Simsen. Das Geld wird vor allem mit Datenflatrates verdient. Telekom-Chef René Obermann schätzte die Steigerungsrate für Deutschland kürzlich in einer Telefonkonferenz auf den Faktor 15-20. Bleiben am Ende tatsächlich nur die “Dump Pipes” der Mobilfunker und ihre Communications-Apps übrig?
Ja, sie haben ein Problem!
Gartner Vice President Stephen Prentice bestätigte uns auf der Pressekonferenz des Bitkom zum Trendkongresses in Berlin: ‘Ja, die Mobilfunk-Anbieter haben ein schwerwiegendes Problem.’ Prentice weiter: ‘Die Mobilfunk-Netzbetreiber werden zu Dump Pipes’. Als Hauptgrund nannte der langjährige Technologie-Experte die fehlende Fähigkeit der Mobilfunker, ihre Services fernab von Telefonminuten und Datenpaketen erfolgreich zu vermarkten. Sie – die Mobilfunker – schafften es nicht, z. B. Cloud Services mit einem Preisschild unter die Leute zu bringen. Zugleich bescheinigte Prentice den Mobilfunkern noch ein langes Leben, da das Handy für viele Menschen wichtiger sei als das eigene Auto oder die eigenen Kinder. Doch die Mobilfunker müssen sich was einfallen lassen.
Alles Start-up – oder was?
Ein Blick in die Portfolios der hauseigenen Start-up-Inkubatoren zeigt, wo sich die New Business Manager der Provider tummeln. Zu den definierten Themen gehören u. a. Mobile Advertising, Mobile Commerce, Mobile Payment, Education und natürlich Networks und Security. Die Telekom trommelt seit dem Frühjahr mit ihrer Start-up-Plattform Hubraum – bislang mit einem einzelnen Deal. Vodafone plant im Rahmen der globalen Initiative Xone erst jetzt einen Start-up-Standort in München. Shortcut Ventures hat für KPN Mobile drei Investments in Deutschland und Europa getätigt. Und Telefónica tummelt sich global mit Wayra in der Szene, bringt es in Deutschland auf 7 Investments mit jeweils 50.000,- Euro.
Telefónica (fast) Ramsch
Mit den – im Vergleich zum Stammgeschäft – kleinen Beteiligungen kann die hoch verschuldete Teleco-Industrie jedoch keine Blumentöpfe gewinnen. Mit dem Finanzstatus “BBB” wertete Standard & Poors im Mai d. J. die spanische Telefónica mit rd. 58 Mrd. Euro Schulden fast auf Ramschniveau herunter. Mit einem Verhältnis von 3,7-mal so hohen Verbindlichkeiten im Vergleich zum Eigenkapital gilt Telefónica als schwer angeschlagen. Mit rd. 39 Mrd. Euro Miesen liegt bei der Deutschen Telekom das Verhältnis kritisch an der Grenze von 2-mal so hohen Schulden wie Eigenkapital, auch wenn die Bonner ihre Verbindlichkeiten innerhalb eines Jahres um gut 3 Mrd. Euro reduzieren konnten. Die niederländische KPN schaffte es, ihre Schulden mit Hilfe eines Sanierers innerhalb eines Jahres von 22 auf 13 Mrd. Euro zu senken. Stellt sich die Frage, ob die Mobilfunker tatsächlich noch zehntausende von Mitarbeitern in ihren Landesgesellschaften brauchen?
Everything – Everywhere
Als eine der unausweichlichen Folgen werden wohl weitere Mobilfunker ihre Netze zusammenlegen. Was mit T-Mobile und Orange in Großbritannien unter dem Label ‘Everything Everywhere’ begann und mit Vodafone und Telefónica in UK sowie Vodafone und Hutchinsons Three in Irland fortgesetzt wurde, wird in absehbarer Zeit womöglich auch zwischen E-Plus und Telefónica in Deutschland passieren. KPN-Chef Eelco Blok befeuerte auf einer Konferenz in Barcelona die vor dem deutschen Telefónica-Börsengang bereits verhandelte Netzfusion. Auch die geplante Fusion der österreichischen Orange-Tochter mit Hutschinsons “Drei” beflügelt die Spekulationen um eine weitere Konsolidierung des europäischen Mobilfunksektors.
Wer sich zuerst bewegt, …
Mit verkauften oder kapitalisierten Landesgesellschaften, zusammengelegten GSM- und UMTS-Netzen, ausgelagertem Netzbetrieb, verkauften Betonmasten und einer schlanken Struktur haben die Mobilfunker durchaus eine Chance, auch in Zukunft vorn mitzuspielen. Doch bei drei der vier Betreiber in Deutschland grassiert in den Management-Etagen anscheinend immer noch das beliebte Beamten-Mikado: Wer sich zuerst bewegt, hat verloren. Nach 20 Jahren erfolgreichem Geschäft scheinen sich die Mobilfunker noch auf der sicheren Seite zu wähnen. Doch die Konkurrenz schläft nicht.
Alles App oder was?
Sollte Zuckerbergs Facebook seine mobilen Dienste zu einem globalen Communications-Service einschl. Voice und Video ausbauen, sollte Microsofts Skype nicht nur Chat sondern auch auch Skype Out kostenfrei anbieten und sollte WhatsApp aus seinem beliebten Chat-Service ein umfassenden Comms-Service entwickeln, müssten die europäischen Mobilfunk-Dickschiffe ziemlich tief in die Tasche greifen, um nicht weggefegt zu werden. Ihnen bleibt eigentlich gar nichts weiter übrig, als mit eigenen Apps wie Libon, Pinger, Tu Me und Yuilop, mit Beteiligungen an erfolgversprechenden Startups und weiterem Costcutting den Zug nicht zu verpassen.